Die Familie von Hermann Hellmann

Richard Hellmann
Berta Hellmann geb. Lauchheimer © StA GUN

Der Kaufmann Hermann Hellmann war der Sohn von Janthoff und Deborah Hellmann und lebte von 09.08.1876-24.06.1930 in Gunzenhausen. Er war verheiratet mit Bertha, geb. Lauchheimer (01.06.1875-16.07.1938) aus Schopfloch.

Sie wohnten ebenso wie Bruder Albert Hellmann in der Kirchenstraße 13/15 und hatten drei Söhne.

Julius *08.03.1903

Richard *29.09.1904

Heinrich *14.05.1912

Richard Hellmann © Stadtarchiv Gunzenhausen

 

Richard heiratete im August 1936 die junge Betty Löwensteiner (20.09.1911 - Oktober 2005) aus Markt Berolzheim.

Einen Monat später gibt Frau Berta Hellmann bekannt:

Ich teile mit, dass der bisher, wie bekannt, von meinem Sohn Richard auf meine Rechnung geführte Geschäftsbetrieb, ab 1. September 1936 auf meinen Sohn selbst übergeht, der den gleichen Geschäftsbetrieb in unveränderter Form fortführt.

Am 24.06.1937 wird Tochter Ruth geboren.

Ein Jahr nach der Heirat hatte das junge Ehepaar die Mutter von Betty bei sich aufgenommen. Helene Löwensteiner, geb. Firnbacher aus Markt Berolzheim, lebte lt. Auskunft ihres Enkels Steven M. Lowenstein ab 1937 in Gunzenhausen und ist 1940 in die USA emigriert, wo sie bei der Familie ihrer Tochter Betty in Baltimore lebte. Sie starb dort 1961.

Dieser Enkel Steven M. Lowenstein, dessen Eltern aus Markt Berolzheim ebenfalls in die USA emigriert waren, wuchs in den Washington Heights auf und wurde Professor für jüdische Geschichte. Er lehrte u.a. an der Columbia Universität, am Monmouth College und an der American Jewish University in Kalifornien. Auch für YIVO und das Leo Baeck Institut hat er gearbeitet. Von seinen vielen  Büchern zur Jüdischen Geschichte sind auch einige ins Deutsche übersetzt worden.

Auf dem Bild rechts hat er seine Großmutter Helene Löwensteiner wiedererkannt.

 

Trotz zunehmender Repressalien bleibt die Familie weiterhin in Gunzenhausen.
Erst aufgrund der tragischen Ereignisse in der Kristallnacht am 9. November 1938 verließen sie die Stadt mitten in der Nacht.
Ein Einwohner, der die Reichskristallnacht im Jahre 1938 miterlebt hat, berichtet, dass in der Kirchenstraße besonders die Familie Hellmann zu leiden hatte: „Die Hellmanns waren arme Leute“, erinnert er sich. „Die Männer wurden herumgeschlagen und durch die Stadt gejagt. Die junge Frau Hellmann wurde im Nachthemd in die kalte Nacht getrieben, sie war etwa Mitte zwanzig.“
Wie uns Herr Stanley Hellman aus Baltimore, der Sohn von Betty und Richard Hellmann, mitteilt, muss es sich dabei um die Familie seines Großonkels gehandelt haben, die ebenfalls in der Kirchenstraße gewohnt hat.

Stanley Hellman, geboren 1942 in Baltimore, schrieb uns:
Meine Eltern blieben in Gunzenhausen bis zur Reichskristallnacht. Sie flohen mitten in der Nacht. Das ist eine lange und interessante Geschichte. Meine Mutter erzählt sie in zwei Filmen. Einer davon befindet sich im Holocaust Archiv der Yale Universität. Die andere ist Teil des Erinnerungs-Projektes von Steven Spielberg.

In diesem Auszug aus einem Artikel beschreibt Sohn Stanley die dramatische Flucht seiner Familie in der Kristallnacht.

...Als sie an diesem Abend zu Bett gingen, hatten sie keine Ahnung, was kommen würde. Mitten in der Nacht wurden alle von den Rufen „Juden raus“ geweckt. Pandämonium herrschte. Die erste Gruppe Nazi-Plünderer, die die Kirchenstraße entlangströmte, waren keine Einheimischen. Daher wussten sie nicht, in welchen Häusern Juden lebten. Herr Mosner, der nichtjüdische Gast der Familie, riskierte sein Leben, indem er zum Fenster ging und rief, dass hier keine Juden lebten.

Onkel Heinrich und meine Großmutter verließen schnell ihre Wohnungen und beschlossen alle, dass sie fliehen mussten. Herr Mosner beteiligte sich an der Diskussion. Er schlug vor, dass meine 16 Monate alte Schwester bei ihm im Bett bleiben sollte, während die anderen sich auf den Weg machten. Wenn etwas schief ging, könnte sie geschützt werden. Am Vortag hatte meine Mutter ein Kleid fertig gestrickt; es hing auf einem Kleiderbügel im Schlafzimmer und sie zog es schnell an. Mein Vater schnappte sich etwas Bargeld und verließ in der Verwirrung das Haus in seinen Hausschuhen.

Als sie auf der Rückseite des Hauses flüchteten, überfiel eine zweite Gruppe Nazis die Kirchenstraße. Zu dieser Gruppe gehörten Einheimische, die wussten, wo Juden lebten. Als meine Familie durch die Hintertüre des Hauses ging, konnten sie hören, wie Möbel und Glas im vorderen Teil des Erdgeschosses zerschmettert wurden. Mein Vater hatte sein Auto in einer Garage im hinteren Teil des Grundstücks. Von der Garage führte eine Auffahrt zur Straße, die durch ein Holztor eingezäunt war. Als sich mein Vater mit dem Auto dem Tor näherte, öffnete Onkel Heinrich das Holztor und sprang dann ins Auto. In diesem Moment tauchten plündernde Nazis vor dem Haus auf. In den 1930er Jahren gebaute Autos hatten ein Trittbrett, eine Stufe, die den Einstieg erleichterte. Einer der Nazis sprang auf das Trittbrett und trug ein schweres Tischbein vom zertrümmerten Esszimmertisch. In diesem Moment trat mein Vater aufs Gaspedal und das Auto raste aus der Einfahrt auf die Straße. Diese plötzliche Aktion führte dazu, dass der Nazi-Soldat das Gleichgewicht verlor und vom Trittbrett fiel. Als er jedoch stürzte, schwang er das schwere Esszimmertischbein und zerschmetterte das Fenster des Autos in seiner Reichweite. Mein Vater wurde nicht langsamer und fuhr mitten in der Nacht aus der Stadt.

Ein Auto mit zerbrochenen Scheiben sah verdächtig aus, deshalb fuhren sie in ein Waldgebiet und brachen die restlichen Glasscherben aus dem Fenster. Sie hatten außer einem Sack Kartoffeln, der sich zufällig im Auto befand, nichts zu essen. Ihre erste Station war das Haus von Onkel Ignatz im Nachbarort Leutershausen. Allerdings hatten so viele Menschen in seinem Haus Zuflucht gesucht, dass für meine Familie kein Platz mehr war ...

Auf unsere Frage, warum seine Familie Deutschland erst so spät – fast zu spät - verlassen habe, schrieb uns Mr. Hellman einen langen Brief. Auszüge daraus lassen die Dramatik dieser Zeit für jüdische Familien erkennen.
„In den dreißiger Jahren war es nicht so leicht, Deutschland zu verlassen. Aus heutiger Sicht war es dumm, nicht zu gehen. Doch noch niemals in den Annalen der Menschheit hatte ein so grausames, geplantes Abschlachten unschuldiger Menschen mithilfe einer hochentwickelten Technik stattgefunden, wie es die Nazis im Zweiten Weltkrieg vollbrachten. Wie hätte man sich daher vorstellen können, dass so etwas geschehen wird. Trotz all der Diskriminierung, wie hätte mein Vater die Stadt verlassen sollen, wo seine Familie lebte und so tief verwurzelt war? Viele Menschen dachten, dass die eskalierenden antijüdischen Maßnahmen der Nazis schon wieder nachlassen würden und keinesfalls zog man einen Massenmord in Betracht.
Nichtsdestotrotz erkannte mein Vater die Notwendigkeit der Emigration. Doch um in die Vereinigten Staaten zu kommen, benötigte man eine schriftlich beeidete Erklärung eines amerikanischen Staatsbürgers, dass der Immigrant keinerlei Unterstützung der Regierung benötigen würde.“

1934 war die Schwester von Betty Hellmann mit ihrem Mann in die USA ausgewandert. Ein dort lebender Onkel schrieb ihnen damals: ‚America at its worst is better than Germany at its best.’

Schon nach wenigen Jahren war dieses Ehepaar in der Lage, die sogenannten affidavits, also beeidete Aufnahmeerklärungen für deutsche Familienangehörige auszustellen. Doch diese Ausreisegarantien waren nummeriert und legten das Datum der Ausreise fest. Wer eine höhere ‚Quota’ hatte, musste warten.
„Die Nummer meiner Eltern gestattete die Ausreise erst im September 1939 ... “

So musste die Familie noch die Kristallnacht miterleben. Sie konnte nach Nürnberg zu einem Freund entkommen, der am Weinmarkt wohnte.
„Nach der Kristallnacht kehrte meine Mutter nach Gunzenhausen zurück um Kleidung und persönliche Gegenstände abzuholen. Dort wurde sie von Bürgermeister Appler gefragt, wo ihr Mann und dessen Bruder wären. Sie log und sagte, sie wisse es nicht. Appler glaubte ihr nicht. Schließlich bot er ihr an nicht mehr zu fragen, wenn sie ein Dokument zur Übertragung des Hauses an die Stadt unterschreiben würde. Deshalb existiert eine Urkunde aus dem Jahr 1938. Die Behauptung, dass 4.000 RM bezahlt worden seien, ist eine Lüge. Mein Vater erhielt nichts ... Übrigens, während meine Mutter packte, kamen Leute aus der Stadt in ihr Haus und nahmen sich, was ihnen gefiel. Sie erinnert sich besonders an den Stadtkämmerer von Gunzenhausen, der in das Haus kam, Glühbirnen herausschraubte und mitnahm. Das war Justiz und Gerechtigkeit 1938 in Deutschland.“

Der Familie gelang es, mit dem Zug über Köln nach Belgien zu fahren.
„An der Grenze nahmen Nazi-Posten von allen die Pässe ab und durchsuchten jede Person. Ein weiblicher Posten befragte meine Mutter. Meine Mutter war blond und sah wirklich nicht jüdisch aus. Die Frau fragte sie, warum sie mit einem Juden reisen würde. Als meine Mutter antwortete, sie wäre jüdisch, unterzog sie sie einer Leibesvisitation um sicher zu gehen, dass sie nichts Wertvolles schmuggelte.

Erst als der Zug aus dem Bahnhof fuhr, wurden ihnen die Pässe durch die Fenster in den Zug gereicht. Als der Zug die belgische Grenze passiert hatte, wurden meine Eltern fröhlich und fühlten sich frei, zum ersten Mal seit vielen Jahren hatten sie keine Angst mehr. Sie kamen in Antwerpen an, wo sie mit der ‚Veendam’, einem Schiff der Holland-Amerika-Linie abreisen sollten.

Doch am 1. September hatte der Krieg begonnen und die Briten blockierten jetzt den Hafen von Antwerpen. Sie waren am 20. September 1939 in Antwerpen angekommen, es war der 28. Geburtstag meiner Mutter und in dieser Nacht begann auch Yom Kippur, der heiligste Tag im Jüdischen Jahr. Die Vorschrift ist, dass man an diesem Tag von 30 Minuten vor dem Sonnenaufgang bis 30 Minuten nach Sonnenuntergang fastet.

Die Nazis hatten Belgien noch nicht überfallen. Antwerpen ist eines der Zentren der Diamantenindustrie. Die jüdische Gemeinde dort war sehr wohlhabend. Die Zugladung voller jüdischer Flüchtlinge sollte eigentlich an Bord des Schiffes gehen, aber das Schiff konnte den Hafen nicht verlassen. Was konnte getan werden? Die örtliche jüdische Gemeinde sprang ein.

Am Bahnhof kam ein großgewachsener Mann zu der Gruppe und fragte, wo die Frau mit dem Baby sei. Meine Schwester war das einzige kleine Kind in der Gruppe, sie war gerade zwei Jahre alt. Meine Mutter nahm meine Schwester und sie folgten dem großen Mann. Kurz danach dachte sie plötzlich: „Was habe ich gemacht? Ich gehe mit einem fremden Mann. Wo bringt er mich hin? Werde ich je meinen Mann wieder sehen?“ Er brachte sie in ein Hotel, wo die Holland-Amerika-Linie eine Unterkunft für die Flüchtlinge arrangiert hatte. Beide wurden in einen Raum gebracht und meine Mutter lief nervös in der Halle umher, wartend, was als nächstes geschehen würde ... Dann, nach langer Zeit, hörte sie einen Mann mit Wiener Dialekt sprechen, der mit ihnen im Zug gewesen war und gleich hinter ihm kam mein Vater. Er war sehr aufgeregt, denn der große Mann war zum Bahnhof zurückgekehrt und hatte die Männer zu einer Synagoge gebracht, wo die Yom Kippur Feier begann. Aus einer kleinen Stadt kommend, hatte mein Vater noch nie eine so große Synagoge gesehen und war sehr beeindruckt von den Lichtern und der Atmosphäre dort. Mein Vater war ein sehr frommer Mann und obwohl er seit seiner Abreise aus Deutschland noch nichts gegessen hatte, fastete er, dem jüdischen Gesetz gemäß, bis zur nächsten Nacht. Sechs Wochen lang blieben die Flüchtlinge in Antwerpen und wurden von der jüdischen Gemeinde unterstützt. Schließlich, Ende Oktober, konnte die Veendam auslaufen. Genau ein Jahr nach der Kristallnacht, am 9. November 1939, kamen sie sicher im Hafen von New York an. Sie trafen dort den Bruder meiner Mutter und nahmen einen Zug nach Baltimore, um ein neues Leben zu beginnen ... Der erste Job meines Vater war, in einem großen Kaufhaus Spielsachen für Weihnachten aufzubauen. Dann arbeitete er in einer Bäckerei und danach in einer Fleisch- Verpackungsfabrik ... Später verkaufte er Kleidung, bis er im Jahr 1973 starb. Mein Vater hatte mit fast nichts begonnen und doch so viel verdient, dass er ein wunderschönes Haus bauen, zwei Kinder aufs College schicken, schöne Ferien verbringen und ein komfortables Leben in einem Land leben konnte, das es ihm gestattete seine Religion frei auszuüben.“

Heinrich Hellmann (14.05.1912-1980), der Bruder von Richard, heiratete in Baltimore Sylvia Schuster, die aus Bad Brückenau in der Nähe von Würzburg stammte. Nach dem Tod ihres Mannes verließ sie die USA und kehrte nach Würzburg zurück, wo ihr Bruder David Schuster der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde war. Dessen Sohn Josef Schuster ist seit 2014 der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland.

 

Stanley Hellman, der Sohn von Richard und Betty, lebt heute als Rechtsanwalt in Towson, Maryland. Er ist verheiratet mit einer jüdischen Lehrerin und hat zwei Kinder.

Seine Schwester Ruth lebt in Baltimore. Sie ist mit einem Apotheker, Herrn Greenfeld, verheiratet und hat drei Töchter. Ruth hat bis 2023 gelebt.

Im Zuge der Nachforderungen, die die amerikanische Militärregierung im Auftrag der ehemaligen Eigentümer nach dem Krieg stellte, geschah hier der sehr seltene Fall, dass die Familie Hellmann 1954 ihr Haus zurück erhielt. 1956 verkaufte sie es an Andreas und Emilie Schwarm, geb. Bleicher.

Trotz all der schrecklichen Erlebnisse besuchten Richard und Betty Hellmann, ihre Kinder und Enkelkinder Gunzenhausen nach dem Krieg schon mehr als zehnmal und standen lange Zeit mit Bürgern der Stadt in Briefkontakt.

Im August 2018 besuchte die Enkeltochter Jennifer Greenfeld zusammen mit ihrem Mann Joshua Gordon, Sohn Noah und Tochter Lea Gunzenhausen. Jennifer ist Försterin und bei der Stadt New York verantwortlich für Bäume und Begrünung. Auch der Central Park wird von ihr betreut. Ihr Mann Joshua ist Neurologe und an der Columbia Universität als Wissenschaftler tätig. Dort war er Kollege von Oliver Sacks, was sich herausstellte, als wir ihm dessen Herkunftshaus in der Waagstraße 1 vorstellten.

 

Stanley Hellmann schrieb uns:

The efforts by the Nazis to eradicate Jews did not work. Proudly, if he were still living, Richard Hellman would tell you that he has two children, 5 grandchildren and 5 great-grandchildren variously living in Baltimore, Washington and New York.

Im Oktober 2019 erhielten wir eine Nachricht von Jacob Hellman, einem Enkel von Richard und Betty Hellmann.

"Im Jahr 2014 sind fünf Mitglieder unserer Familie von Amerika nach Gunzenhausen gereist um den Bürgermeister zu treffen, sowie das Haus in der Kirchenstraße und die Stadt zu sehen. Dabei waren Stanley Hellman (Betty's Sohn), Rachel Hellman (Betty's Enkeltochter), Jacob Hellman (Betty's Enkelsohn/ich), Helaine Greenfeld (Betty's Enkeltochter/Tochter von Ruth Hellmann Greenfeld), and Abby Mintz (Helaine's Tochter/Betty's Urenkelin).
Im Moment leben hier fünf Enkelkinder und sechs Urenkelkinder von Richard und Betty Hellmann. Wir wohnen in Baltimore, Maryland; New York, New York; Silver Spring, Maryland; Washington, DC; and Middleton, Wisconsin."

Und im Juli 2024 kamen Stanley und seine Tochter Rachel wieder nach Gunzenhausen.

Unter anderem besuchten sie auch die kleine Ausstellung im Taharahaus, die an die jüdischen Familien erinnert, die hier in der Stadt gelebt haben.