Historische Aufarbeitung der jüdischen Geschichte in Gunzenhausen während der NS Zeit

1950er bis 1970er Jahre

Seit Januar 1939 lebt in Gunzenhausen kein Jude mehr. Die Aufarbeitung der lokalen NS-Geschichte geschah und geschieht deshalb durch ortsansässige Christen oder durch Menschen mit einer anderen Glaubenshaltung, aber auch durch jüdische Emigranten. Schon kurz nach dem Ende des NS-Regimes begannen Menschen aus Gunzenhausen, wieder Kontakt zu ihren jüdischen Freunden aufzunehmen, unter anderen die Familien Kleinschmidt, Lux, Schachner und Ulrich. So kamen bald jüdische Familien nach Gunzenhausen, um die alte Heimat und ihre Freunde wiederzusehen.                 

Das Bild zeigt Nachkommen der Familie Rosenfelder im Jahr 1963 vor dem ehemaligen Haus der Eltern am Marktplatz 16    © Helene Vered, Israel

Wilhelm Lux, damals Redakteur beim „Altmühl-Boten“ begann schon früh, die Geschichte der jüdischen Gemeinde aufzuschreiben. Es war ihm ein Anliegen, sie vor dem Vergessen zu bewahren. Seine Aufzeichnungen wurden vom Heimatkundeverein in der Schriftenreihe „Alt-Gunzenhausen“ veröffentlicht.

Die 1980er und 1990er Jahre

Willy Hilpert, von 1978 bis 1996 Bürgermeister der Stadt, pflegte als erster offizielle und freundschaftliche Kontakte zu ehemaligen jüdischen Bürgern, die er auch nach Gunzenhausen einlud.

Eine bemerkenswerte und umfangreiche Forschungsarbeit veröffentliche der SPD Ortsverein Ende der 80er Jahre unter Leitung des damaligen Stadtrates Richard Schwager: „Verdrängt und Vergessen – Auf den Spuren der Judenverfolgung in Gunzenhausen“.

Auch die Lehrer Heinrich Kraus und Georg Weigel beschäftigten sich mit der Geschichte der hier ansässig gewesenen Juden und veröffentlichten ihre Ergebnisse in Alt-Gunzenhausen sowie in Chroniken.

Mitte der 90er Jahre begann Stadtarchivar Werner Mühlhäußer, eine „Personendokumentation der jüdischen Einwohner von Gunzenhausen“ zu erstellen. In jahrelanger Arbeit forschte er im Stadtarchiv, im Staatsarchiv Nürnberg und im Landeskirchlichen Archiv,  dokumentierte alle Fakten und fasste sie zu einem umfangreichen Nachschlagewerk zusammen. Auch das Hausbuch der Stadt entstand unter seiner Feder. Darin sind Bauherren sowie Nutzung und wechselnde Besitzverhältnisse aller Häuser der Stadt aufgelistet.

 

Ab 2000

Im Jahr 2000 begannen Schüler und Schülerinnen der Stephani-Mittelschule Gunzenhausen unter Leitung von Lehrerin Emmi Hetzner in einem Projekt die Geschichte jüdischer Familien und deren Häuser im Gunzenhausen des 20. Jahrhunderts zu erforschen. Die Initiative dazu war von Georg Weigel und Franz Müller, dem damaligen Rektor der Schule, ausgegangen. Das Know-how für die technische Umsetzung der Forschungsergebnisse in die hier vorliegende Website jl-Gunzenhausen.de steuerte Horst Schäfer bei, damals Leiter der städtischen Stabsstelle Informations-und Kommunikationstechnik.

Die Eingabe der Forschungsergebnisse ins Netz übernahm jahrelang Franz Müller, der als Rektor die Aktivitäten der Projektteilnehmer stets unterstützte und förderte.

Zunächst basierten die Forschungen der Schüler im Wesentlichen auf der „Personendokumentation der jüdischen Einwohner von Gunzenhausen“ und auf dem Hausbuch der Stadt. Diese wichtigen Grundlagen hatte ihnen Stadtarchivar Werner Mühlhäußer zur Verfügung gestellt, ebenso seine fachliche Beratung und persönliche Anteilnahme an der Arbeit der Jugendlichen.

Auf der Basis all der oben genannten Vorarbeiten war es den Schülern möglich, zu fast jeder jüdischen Familie, die im 20. Jahrhundert hier gelebt hat, zumindest das Grundgerüst ihrer Familiengeschichte zu erstellen. Eine weitere Vervollständigung gelang nach und nach nur, weil Zeitzeugen aus der Stadt bereit gewesen waren, ihre Familienarchive zu öffnen und den Schülern Auskunft über früher zu geben. Und, weil Überlebende und Nachkommen ehemaliger jüdischer Bürger der Stadt im Internet auf dieser neu entstandenen Website ihre Familiengeschichte entdeckt hatten und jetzt begannen, weitere Informationen und Bilder beizusteuern und Gunzenhausen wieder zu besuchen.

So lernten die Projektteilnehmer Menschen kennen, deren Vorfahren sich vor dem antisemitischen Terror hatten retten können, der sie in viele Teile der Welt verstreut hatte. Die Nachkommen der vertriebenen Gunzenhäuser nahmen oft weite Reisen auf sich, um die Schule zu besuchen und den Jugendlichen von ihrem Leben zu berichten.

Auch Zeitzeugen und alte Schulfreunde kamen zu diesen Treffen ins Klassenzimmer.

Diese Besuche waren oft sehr bewegend, ganz besonders dann, wenn die Schüler ihre Gäste zu den Orten in der Stadt führten, die für deren Vorfahren einst von Bedeutung gewesen waren. Heutige Hausbesitzer hießen Schüler und Besucher willkommen und zeigten ihnen das Haus ihrer Vorfahren von innen.

 

Die Unterstützung durch Bürger der Stadt war für alle eine wertvolle Erfahrung. Vor allem die Tatsache, dass sie offen und ehrlich über ihr Verhalten gegenüber den ehemaligen jüdischen Mitbürgern berichteten. Karl Strauß kam z.B. ins Klassenzimmer und sagte: „Ich schäme mich heute noch, dass ich als Bub meinem jüdischen Nachbarn das Fenster eingeschmissen hab.“

 

Bis zu ihrem Tod im Jahr 2009 hat Susanne Eisen aus San Francisco als Native Speaker die englischen Texte der Schüler zu einer perfekten Übersetzung optimiert.

Schon bald danach begann Lesley Loy aus London, die heute in Gunzenhausen lebt, die weiteren Texte der Website ins Englische zu übersetzen. So können heute fast alle Nachkommen die Geschichte ihrer Familie lesen, verstehen und sie ergänzen, auch diejenigen, die die deutsche Sprache nicht mehr gelernt haben.

Sehr zu würdigen sind auch die Bürgermeister, die während der Dauer dieses Projektes der Stadt vorstanden, Herr Trautner, Herr Federschmidt und Herr Fitz. Sie waren und sind stets bereit, jüdische Besucher zu empfangen und standen dem Vorhaben immer unterstützend zur Seite. Ebenso Ingeborg Herrmann, die Pressereferentin im Rathaus, die viele Juden kennen und schätzen.

Inzwischen wurde auf Anregung von Horst Schäfer das Layout dieser Website von Studenten der Hochschule Ansbach dankenswerterweise erneuert und auf den technisch aktuellsten Stand gebracht.

Und so ist diese große Gemeinschaftsarbeit ein Baustein von vielen geworden, ein weiterer Beitrag auf dem Weg, die Erforschung der jüdischen Geschichte dieser Stadt zu vervollständigen. Noch heute treffen Beiträge, Fotos und Ergänzungen zu Familiengeschichten hier ein, Nachkommen, die noch nie da gewesen sind, melden sich und besuchen die Stadt.

Das Projekt lebt.

 

 

Gegenwart und Zukunft

Der in Gunzenhausen geborene Berliner Autor Thomas Medicus veröffentlichte 2014 das Buch "Heimat: Eine Suche", in dem er das Erinnern an die Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus und an die Nachkriegszeit in seiner Heimatstadt Gunzenhausen zum Thema macht. Einen großen Raum widmet er darin den Juden der Stadt, zu deren Nachkommen er gute Kontakte pflegt.

 

 

 

Die evangelische und die katholische Kirchengemeinde sowie die Hensoltshöhe haben jeweils an ihren Gotteshäusern eine Tafel angebracht, mit der sie die Juden um Vergebung bitten.

Nach wie vor wird jedes Jahr am 9. November zum gemeinsamen Gedenken an die Reichspogromnacht eingeladen. Veranstalter sind die Kirchen, das Diakoniewerk Hensoltshöhe und die Stadt gemeinsam. Begonnen wurden diese Gedenkfeiern von der Jugendorganisation der SPD zu Beginn der 80iger Jahre. Nach einer Pause wurden sie zu Beginn des Jahrtausends von Frau Rhode, einem Mitglied des Kirchenvorstands der evangelischen Kirchengemeinde, neu angeregt. Seitdem beteiligen sich Jugendliche, z.B. die Teilnehmer des Schulprojektes, aber auch der ehemalige zweite Bürgermeister Peter Schnell, Georg Weigel und der Stadtarchivar Werner Mühlhäußer sowie Nachkommen jüdischer Familien, wie Walter Joelsen, an der Ausgestaltung des Gedenkens. Auch eine jüdische Autorin aus München kam zu einer Lesung über die Geschichte ihrer Familie.

Pfarrer Matthias Knoch, der gute Kontakte zu Juden aus Israel pflegt, regte Jugendtreffen zwischen israelischen und deutschen Schülern an. Organisiert werden sie von dem Jugendpfleger der Stadt, Helmar Zilcher. Vor einigen Jahren war eine Gruppe aus Israel hier und demnächst ist eine Reise dorthin geplant. Matthias Knoch regte an, dass Ilan Katz aus Israel regelmäßig nach Gunzenhausen kommt und an allen Schulen der Stadt mit den Schülern spricht. Im Jubiläumsjahr 2023 wird er mit einem jüdischen Jugendorchester anreisen. Eine Woche lang werden israelische und fränkische Jugendliche miteinander musizieren.

Werner Mühlhäußer veröffentlicht kontinuierlich Forschungsergebnisse zur Jüdischen Geschichte der Stadt. Sie sind im Stadtarchiv erhältlich.

Seit 2021 trifft sich eine Dialoggruppe bestehend aus jüdischen Nachkommen und Bürgern Gunzenhausens unter der Leitung von Stefan Mages regelmäßig zu virtuellen Treffen. Neben dem persönlichen Kennenlernen und miteinander Vertrautwerden, ist das Verstehen- und Begreifenwollen dessen, was hier während der Zeit des NS-Regimes von Bürgern der Stadt und des ganzen Landes ihren jüdischen Mitbürgern angetan worden ist, von zentraler Bedeutung bei den Gesprächen.

Auf jüdischer Seite beteiligen sich

  • Dina Bauer, USA, aus der Familie Bauer/ Neuburger
  • Faye Dottheim-Brooks, USA, aus der Familie Dottenheimer
  • Bobby Ray Hicks, USA, aus der Familie Rosenau
  • Julian Landau, Israel, aus der Familie Landau
  • Shulamit Reinharz, USA, aus der Familie Rothschild
  • James Strauss, USA, aus der Familie Strauß
  • Tami Yechieli, Israel, aus der Familie Rothschild
  • Carol Zsolnay, USA, aus der Familie Eisen

Von Gunzenhausen beteiligen sich

  • Melanie Gerdes-Oeder
  • Ingeborg Hermann
  • Emmi Hetzner
  • Johannes Kergl
  • Matthias Knoch
  • Stefan Mages
  • Thomas Medicus
  • Peter Schnell

Begründet wurde dieser Gedankenaustausch von Netanel Yechieli aus Israel, der inzwischen leider verstorben ist. Ihm zum Dank und zu seinem Gedenken firmiert die Gruppe nun unter dem Namen „Netanel Lecture Series – Lernen um der Versöhnung willen“. Er war ein Urenkel des jüdischen Arztes Dr. Karl Rothschild, der von 1919 bis 1934 in Gunzenhausen praktiziert hat. Im Sommer 2022 erfuhren wir tief betroffen von Netanels Tod. Dieser Nachruf erschien in der Tageszeitung 'Altmühl-Bote'.

Netanel hat die Stadt seiner Vorfahren 2016 besucht. Auch heute noch kommen jedes Jahr jüdische Familien nach Gunzenhausen. Wenn Sie einen Besuch planen, wäre es gut, wenn Sie ihn vorher ankündigen würden. Dann wäre jemand da, der Sie willkommen heißen und Ihnen die Stadt zeigen könnte. Sie können sich über das 'Kontaktformular' oben rechts auf dieser Seite ankündigen oder direkt beim Stadtarchiv stadtarchiv@gunzenhausen.de

Jüdische Besucher interessieren sich besonders für den Friedhof, auf dem ihre Vorfahren begraben worden sind. Elke Hartung ist zuständig für den jüdischen Friedhof in Gunzenhausen. Sie bietet dort Führungen an, in denen sie die jüdische Begräbniskultur und besondere Grabsteine vorstellt, aber auch über die Geschichte der jeweiligen Familien berichtet. Ergänzend dazu hat Stadtarchivar Werner Mühlhäußer Info-Tafeln gestaltet. Seit 2023 werden im Taharahaus auf einem Luftbild vom Stadtzentrum Familiengeschichten jüdischer Einwohner vorgestellt.

Johannes Kergl, Lehrer an der Stephani-Mittelschule und Melanie Gerdes-Oeder, Lehrerin am Simon-Marius-Gymnasium, setzen erfreulicherweise die Arbeit mit Schülern fort.

Heute liegt die Betreuung der Webseite in der Obhut der Stadt Gunzenhausen. Zuständig sind der Leiter der Stabsstelle Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Manuel Grosser sowie Stadtarchivar Werner Mühlhäußer, der auch fachkundiger Ansprechpartner ist.