Die Familie von Dr. Karl Rothschild

Karoline Rothschild geb. Kellermann, erhalten von Shulamit Reinharz

Am 11.06.1892 wurde Dr. Karl Rothschild in Schlüchtern als Sohn von Isaak Rothschild und Karoline, geb. Kellermann geboren.

Seine Mutter stammte aus Gunzenhausen, unter Familie Kellermann ist die Geschichte ihrer Familie nachzulesen.

 

Um 1919 kam Dr. Karl Rothschild mit seiner jungen Frau nach Gunzenhausen und wohnte zunächst in der Seckendorffstraße 3. Hier übernahm er die Praxis des 1918 verstorbenen jüdischen Arztes Dr. David Rueck.

 

 

 

Karl und Thekla Rothschild

Die Bilder von Karl und Henriette Rothschild haben wir von Shulamit Reinharz aus Boston erhalten.

In erster Ehe war Karl Rothschild mit Thekla Katzenstein, geb. am 23.12.1896 in Pfungstadt, verheiratet.

Im Jahr 1920 kaufte er von der jüdischen Familie Wertheimer, die nach München gezogen war, das Haus in der Bahnhofstraße 35 für 32 500 RM. Hier eröffnete er seine neue Arztpraxis und im Laufe der folgenden Jahre wurden dort die vier Kinder der Familie geboren.

Max Michael *20.02.1921  +2013 USA

Manfred *21.03.1922   +29.12.1922 Gunzenhausen

Hannah Helena *24.12.1924  +16.09.2012 Israel

Eva *22.03.1929

Quelle: Personendokumentation der jüdischen Einwohner von Gunzenhausen, zusammengestellt von Stadtarchivar Werner Mühlhäußer

Thekla Rothschild mit ihrem kleinen Sohn Max, erhalten von Shulamit  Reinharz.

Klassenfoto von 1932, erhalten von Max Weinmann aus Argentinien

Alle drei Rothschild Kinder besuchten zunächst die jüdische Volksschule. Ihr Lehrer war Max Levite.  Nachkommen der Rothschilds erkannten auf diesem Klassenfoto von 1932 ihre Mutter Hannah. Sie ist das kleine Mädchen mit dem dunkleren Teint, die zweite von links in der zweiten Reihe.

Am 26. März 1933 ereilte die Familie ein Schicksalsschlag: Frau Thekla Rothschild starb.

Dr. Karl Rothschild blieb zunächst in Gunzenhausen, wo er ein sehr angesehener und großzügiger Arzt war, der Berichten von Zeitgenossen zufolge auch ohne Rechnung behandelte, wenn jemand in Not war.

Die Rothschildkinder mit ihrer zweiten Mutter Henny, erhalten von S. Reinharz

Umso bedrückender und unverständlicher ist das, was die Familie in dieser Zeit in Gunzenhausen erleben musste.

Tochter Hannah Cherlow, die seit ihrer Heirat in Israel lebte, berichtete uns:
Meine Mutter starb im März 1933 und schon im Sommer des darauffolgenden Jahres wurde mein Vater zu dem hiesigen jüdischen Gasthof gerufen, da zwei jüdische Männer von Nazis umgebracht worden waren.

Ihre Lebenserinnerung hat sie für ihre Familie aufgeschrieben. Pfarrer Martin Majer übersetzte sie uns dankenswerterweise aus dem Hebräischen.

"... Ich erinnere mich daran, dass zur Feier der Bar Bitzwa meines ältesten Bruders im Jahr 1934 sämtliche Verwandten bei uns zu Gast waren, und alle sprachen über die politische Situation. Die Fenster am Haus waren teilweise mutwillig beschmiert – ein deutliches Zeichen dafür, unter welchem Druck und mit welchen Ängsten wir damals lebten. Kein jüdisches Haus in der ganzen Stadt blieb davor verschont.

Als mein Bruder einmal in Begleitung eines weiteren Juden nach Hause ging, passten ihn ein paar deutsche Raufbolde ab, so dass er von da an nicht mehr zur Realschule gehen wollte. Vater und Mutter beschlossen, ihn zu Oma Betty nach München zu schicken. Max war damals 14 Jahre alt. Er zog also zur Großmutter nach München und setzte dort seine Schulzeit auf dem Gymnasium fort.

Eines Tages kam ein Telefonanruf für Vater von einem der Lehrer von Max: „Ich habe Ihren Sohn aus der Klasse entfernt, doch möchte ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass dies trotz seiner guten Leistungen, die über denen der Mitschüler liegen, geschehen musste. Ich wurde zu dieser Maßnahme gezwungen, weil die antijüdische Stimmung dies erforderlich macht. Wegen seiner deutschen Mitschüler habe ich Angst um ihn. Ein Jude darf nicht ausgezeichnet werden, es ist verboten.“ Dies waren die bedauernswerten Worte des deutschen Lehrers gegenüber meinem Vater ...

Die Lage wurde für uns Juden täglich schlechter. Die NSDAP erhielt immer mehr Zulauf und schränkte die Bewegungsfreiheit von Juden mehr und mehr ein. Vater Karl und Mutter Henriette kamen zu dem Schluss, dass es nicht weiter möglich sein werde, in Gunzenhausen zu bleiben. Im Jahr 1935 zogen wir deshalb alle zusammen nach München um. Oma Karoline kam ebenfalls mit uns. Das Leben in der vertrauten Stadt war für uns Juden unerträglich geworden. Vielleicht würde es in einer großen Stadt besser werden. In der Kleinstadt kannte jeder jeden, und es war durchaus denkbar, dass ein deutscher Nachbar sich von heute auf morgen von einem freundlichen Menschen, der sich vielleicht sogar von Vater medizinisch behandeln ließ, in einen Steinewerfer verwandelte, der Fensterscheiben an unserem Haus einwarf. Dies war die Kehrseite der vertrauten Konventionen zwischen Juden und Deutschen, die ja Nachbarn waren. Bei der groben Verletzung solcher Gewohnheiten erwies sich jede persönliche Bekanntschaft als gravierender Nachteil. Alle kannten einander. Mit unserem Umzug nach München wurden wir wieder zu Fremden. Dadurch waren wir vielen anderen Menschen in der Stadt gleichgestellt. Man kannte und erkannte uns weit weniger.

Der Umzug fiel keinem von uns leicht, aber er war dringend nötig. Als Glücksfall für uns kann gelten, dass ein anderer jüdischer Arzt, Dr. Feuchtwanger, München verließ und ins Land Israel übersiedelte, nämlich nach Jerusalem. Das Haus samt der Praxis ließ er zurück, und Vater konnte glücklicherweise beides übernehmen, so dass wir nun ein neues Domizil hatten.

Doch warum begriff unser Vater nicht, dass es eigentlich an der Zeit gewesen wäre, alles zurück zu lassen und es Dr. Feuchtwanger nachzumachen und ins Land Israel zu gehen? Warum unternahm er diesen Schritt, für den er sich jahrelang stark gemacht hatte, letztlich doch nicht? Ich kann auf diese Frage keine wirkliche Antwort finden. Möglicherweise spielten unsere Großmütter eine Rolle, die zurück zu lassen seine Vorstellungskraft überstieg. Für sie repräsentierte er die ihnen nächste Verwandtschaft. Und wie hätte er ohne unsere Mutter die Verantwortung für sie übernehmen können? Tatsächlich hatten einige jüdische Familien aus Gunzenhausen in jenem Stadium den Entschluss gefasst, alles zurück zu lassen und ins Land Israel einzuwandern ...

In München, Tierschstraße 19, eröffnete Dr. Karl Rothschild eine neue Praxis.

 

Bezirkstierarzt Dr. Wagner, erhalten von Fam. Wagner

Ein Jahr lang stand das Haus in der Bahnhofstraße leer und es lagen wohl einige Kaufangebote vor.
Im Juni 1936 begann ein Briefwechsel mit dem Bezirkstierarzt Dr. Georg Wagner aus Gunzenhausen. Beide kannten sich seit 1929, als der aus Forchheim stammende Tierarzt nach Gunzenhausen versetzt worden war und ein Jahr lang bei den Rothschilds zur Miete wohnte. Dr. Wagner zeigt Interesse an dem Haus und bekommt es für 22 500 RM angeboten.

Ein vollständig erhaltener Briefwechsel dokumentiert die Verhandlungen zwischen den beiden Herren, die am 4. August 1936 ihr Ende in der notariellen Beurkundung des Hausverkaufs an die Bezirkstierarzteheleute Dr. Georg und Rosa Wagner finden. Für 17 000 RM plus 2 344 RM Wertzuwachssteuer wechselt das Haus den Besitzer. Dr. Georg Wagner zieht mit Frau und Sohn Hermann ein und eröffnet hier seine Tierarztpraxis.

Bisher wussten wir nur, dass die Familie Rothschild München nach wenigen Jahren wieder verlassen hat und nach Amerika ausgewandert ist. Tochter Hannah berichtete uns über das weitere Schicksal der Familie:

1935 zogen wir alle nach München, nachdem mein Vater das Haus zu einem relativ niedrigen Preis an einen Tierarzt verkauft hatte.

Am 9. November 1938 wurde mein Vater in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Mein Bruder, der zu dieser Zeit eine landwirtschaftliche Ausbildung absolvierte, damit er in Palästina Arbeit finden wird, kam nach Buchenwald in das Konzentrationslager.

Im Dezember 1938 wurde mein Vater wieder entlassen, ebenso mein Bruder, der sofort nach Holland emigrierte.

Mich schickte man im März 1939 mit einem Kindertransport zu einer Familie nach London und meine Schwester kam auf die gleiche Weise in ein Kinderheim nach Glasgow in England. Zwei Wochen vor dem Ausbruch des Krieges kamen auch meine Eltern nach London. In München mussten sie unsere beiden Großmütter zurücklassen, die später von den Nazis ermordet wurden.

Im März 1940 konnten meine Eltern, meine Schwester und ich in die USA emigrieren. Wir ließen uns in Malden, Massachusetts, einem Vorort von Boston, nieder.

Mein Vater begann ein Studium für das medizinische Staatsexamen und meine Mutter arbeitete in einer Fabrik, während meine Schwester und ich die Schule besuchten.

Später schloss ich an der Universität als Ingenieurin ab und begann 1946 in New York zu arbeiten. Mein Vater wurde als Arzt in Massachusetts zugelassen und begann dort zu praktizieren.

Mein Bruder hielt sich in Holland auf einem Bauernhof versteckt und lebte zwei Jahre lang mit einem anderen jungen Mann in einer Dachkammer. Als Holland befreit wurde, kam auch er in die USA.

Nach dem Krieg, 1946, besucht der Sohn Max Rothschild Gunzenhausen und sein Elternhaus. Über diesen Besuch berichtete uns Herr Mike Rohrbach aus den USA, der Max Rothschild für uns gefunden hat:

Max ist tatsächlich nach dem Krieg noch einmal in Gunzenhausen gewesen, doch als er die zerstörte Synagoge und den verwüsteten jüdischen Friedhof sah, beschloss er, nie mehr zurück zu kehren.

Dies ist der letzte bekannte Besuch eines Familienmitgliedes in Deutschland.

Kurz danach bekommt die Familie Wagner die Mitteilung, dass nach einer Entschließung der amerikanischen Militärregierung alles Eigentum, das von jüdischen Besitzern erworben worden ist, unter Sperre und Beaufsichtigung fällt, sofern man nicht den Nachweis erbringen kann, dass der Kauf nicht unter Zwang, Drohung oder in rechtswidriger Weise geschehen ist. Dieser Nachweis musste schriftlich durch den früheren jüdischen Besitzer oder dessen gesetzlichen Erben erfolgen.

Die Familie bezahlt ab jetzt Miete für das Wohnrecht in dem Haus.

Nun war allerdings der Kontakt zwischen den beiden Familien inzwischen abgebrochen. In seiner Not wendet Dr. Wagner sich an die Stadt Amsterdam und bittet um Mitteilung der Adresse von Max Rothschild, der dort studieren soll.

Offensichtlich ist ihm die Anschrift zugesandt worden, da nun erneut ein vollständig erhaltener Briefwechsel seinen Anfang nimmt. Im Januar 1947 erbittet er von Dr. Rothschild eine schriftliche Bestätigung mit dem Hinweis, dass ihm das Haus damals ohne Druck seinerseits verkauft worden sei und dass er auf eine Wiedergutmachung keinerlei Anspruch erhebe.

Erst im Oktober 1948 erhält er aus den USA die gewünschte Erklärung.

Beigefügt ist dem Brief jedoch noch eine persönliche Notiz.

October 20, 1948

Sehr geehrter Herr Reg. Vet. Rat!
Inliegend finden Sie die gewünschte Erklärung.
Ich ließ die Worte "Zwang" und "Drohung" weg, da ich
doch moralisch gezwungen war (ich bitte das absolut
unpersönlich aufzufassen), das Haus zu verkaufen
und Gunzenhausen zu verlassen.

Indem ich Ihre Grüße aufs beste erwidere, bin
ich Ihr sehr ergebner

Karl Rothschild

Damit endete der Kontakt zwischen den beiden Familien.

Leider ist Herr Max Rothschild bis heute nicht mit dem Schicksal der jüdischen Gemeinde Gunzenhausens und v. a. seiner Familie versöhnt. Herr Rohrbach schrieb uns:

Ich fand Max Michael Rothschild in New Jersey und habe heute (18. Dezember 2002) mit ihm gesprochen.
Er war sehr freundlich und sprach sehr offen darüber, dass er keinen Kontakt zu Gunzenhausen mehr haben möchte.

Das tut uns sehr leid. Wir freuen uns daher besonders über den Briefwechsel mit seiner Schwester Hannah, die uns über das Leben der Familie in den USA und in Israel berichtet:

Meine Schwester war die Vizepräsidentin eines Junior Colleges in Seattle, Washington, und mein Bruder war einer der Direktoren des Jüdischen Theologie Seminars in New York. Ich wurde Maschinenbau – Ingenieurin ... 1948 heiratete ich und zog 1949 mit meinem  Mann nach Israel. Er arbeitete hier 30 Jahre lang bei der ELAL Fluglinie als Betriebswirtschaftler, und ich arbeitete erst als Patent-Prüfer und später als Patent-‚Agent’.

Inzwischen sind wir beide im Ruhestand ... Mein Mann und ich sind davon überzeugt, dass Israel das einzige Land ist, in dem Juden frei leben können ...


Mein Vater starb 1978 und meine Mutter 1991. Beide sind in Jerusalem begraben.

 

Hannah, Max und Eva Rothschild bei einem Familientreffen, erhalten von Hannah Cherlow
Bsanimbüchse der Rothschilds, aus "Die Inventarisation jüdischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Bayern" nach Theodor Harburger, Band 2

Eine Bsamimbüchse aus dem Privatbesitz der Familie war der Synagoge von Gunzenhausen zur Verfügung gestellt worden. Offensichtlich konnte sie noch rechtzeitig vor der Plünderung zurückgeholt und mit nach Amerika genommen werden. Als Tochter Hannah nach Israel ging, wurde sie ihr von ihren Eltern mitgegeben.

Mehr dazu auf der Seite über die Ritualgegenstände aus der Synagoge von Gunzenhausen.

Prof. Shulamit Reinharz vor dem Haus ihrer Großeltern Bahnhofstraße 35 im Oktober 2015 © Franz Müller


Frau Hannah Cherlow lebte zusammen mit ihrem Mann Robert in Jerusalem und unterstützte aktiv eine Organisation, die Kindern in Not hilft:

Seit 1974 unterstütze ich AMIT. Es ist dies eine Frauen-Organisation, die ein großes Bildungsnetz in Israel umfasst. Wir unterstützen 53 Institutionen, darunter zwei Kinderdörfer, in denen Kinder aus nicht mehr intakten Elternhäusern leben und versorgt werden.

In Israel sind die ersten acht Schuljahre kostenlos, doch für die 9. – 12. Klasse müssen die Eltern bezahlen.

AMIT hilft hier mit der Übernahme der Unterrichtsgebühren und bezahlt auch zusätzliche Unterrichtsstunden, damit die Schüler bessere Abschlüsse erzielen. Wir unterstützen auch die Anschaffung von Brillen, zahnärztliche Behandlung, psychologische Hilfe und Fahrtkosten für bedürftige Schüler.

Jede Art von finanzieller Unterstützung ist der Organisation willkommen. Auskünfte werden erteilt unter robertcherlow@hotmail.com

Hannah Cherlow starb im Jahr 2012 und Max Rothschild im Jahr 2013.

Diese Mitteilung erhielten wir von Prof. Shulamit Reinharz, der Tochter von Max Rothschild, die wir glücklicherweise kennenlernen durften. Zwei Jahre nach dem Tod ihres Vaters kam sie nach Gunzenhausen, um hier die Geschichte ihrer Vorfahren zu erforschen und den Schülern vom Schicksal ihrer Familie zu berichten. Sie schreibt gerade an einem Buch, dessen Grundlage die Lebenserinnerungen ihres Vaters sind. Etliche seiner Schilderungen über Menschen und Vorkommnisse im damaligen Gunzenhausen las sie den Schülern vor und beeindruckte sie damit sehr.  

 

Sprechzimmertür der Praxis Rothschild

Besonders berührt war sie von der Sprechzimmertür ihres Großvaters, die heute noch unverändert in dem Haus erhalten ist.

Max Rothschild schreibt in seinen Erinnerungen über dieses Sprechzimmer:

Vaters Sprechzimmer, oder eher die Sprechzimmer, waren unten in unserem Haus, so wie es damals üblich war. Es gab ein Wartezimmer mit vielen Tischen und Stühlen, Journalen und Magazinen, und an einer Wand hing eine wunderbar leuchtende Kopie von Maimonides‘ „Morgengebet eines Arztes“. Und es hingen einige gerahmte Sprichwörter hinter Glas, von denen ich mich noch an eines erinnere:

„Sprich von deinem Leiden nicht

hier im Wartezimmer,

duld‘ es auch von andern nicht,

sonst wird’s nur noch schlimmer.“

 

Im Juli 2016 besuchte Natanel Yechieli zusammen mit seiner Cousine Tirza Routtenberg, geb. Cherlow, Gunzenhausen. Beide sind Enkel von Hannah Cherlow, der Tochter von Dr. Karl Rothschild. Sie brachten aus Israel Bilder ihrer Familie mit, die sie Bürgermeister Fitz und Stadtarchivar Mühlhäußer schenkten, damit die Erinnerung an die Familie Rothschild und deren Nachkommen hier in der Stadt erhalten bleibt. 

Auch sie besuchten das Haus der Familie in der Bahnhofstraße und wurden von Familie Wagner, den heutigen Besitzern, durch das Heim ihrer Vorfahren geführt.  Fred Loos, der früher in der Nachbarschaft gewohnt hatte und als kleines Kind Patient von Dr. Karl Rothschild gewesen war, teilte mit den jungen Besuchern seine Erinnerungen an diese Zeit. 

Auf dem jüdischen Friedhof hielt Netanel eine kurze Andacht, auch zum Gedenken an seine Urgroßmutter Thekla Rothschild, die hier begraben liegt. Leider ist ihr Grab nicht mehr auffindbar, da auch dieser Grabstein zusammen mit vielen anderen in der Zeit des Dritten Reiches zerstört worden ist. 

In der Tageszeitung Altmühl-Bote wurde ein ausführlicher Bericht über den Besuch veröffentlicht: http://www.nordbayern.de/region/gunzenhausen/nachfahren-der-rothschilds-besuchen-gunzenhausen-1.5321078

Zeitungsbericht im Altmühl-Boten

Nachfahren der Rothschilds besuchen Gunzenhausen

Tirza Routtenberg und Netanel Yechieli aus Israel begeben sich auf Spurensuche  

06.07.2016 von Marianne Natalis

GUNZENHAUSEN - Gunzenhausen, sagt Netanel Yechieli, war für ihn immer nur ein leeres Wort, ein irgendwie magischer Name, der aber mit nichts gefüllt war. Nun sitzt der Urenkel von Dr. Karl Rothschild in der Gaststätte Arnold, jenem Wirtshaus, vor dem 1934 der Blutige Palmsonntag seinen Ausgang nahm und ist zu Tränen gerührt. Für ihn hat sein Besuch in der Altmühlstadt einen „Prozess der Heilung“ in Gang gesetzt. GUNZENHAUSEN – Lange Jahre wussten Netanel Yechieli und seine Cousine Tirza Routtenberg quasi nichts über das kleine mittelfränkische Städtchen, das doch untrennbar mit dem Schicksal ihrer Familie verbunden ist. Dr. Karl Rothschild ließ sich 1919 mit seiner jungen Frau Thekla in der Altmühlstadt nieder. In der Bahnhofstraße 35 hängt noch heute an einer Tür das Schild „Sprechzimmer“, ein Detail, das den beiden Besuchern aus Israel ebenso zu Herzen geht wie überhaupt die Möglichkeit, das frühere Haus der Familie besichtigen zu können.

Tirza Routtenberg und Netanel Yechieli besuchten auch den jüdischen Friedhof. Sie wurden dabei begleitet von Pfarrer Matthias Knoch, Emmi Hetzner und dem Pfarrer i. R. Hartmut Kühnel mit Frau Gertraud.

 

Natürlich wussten Netanel Yechieli und Tirza Routtenberg um die deutschen Wurzeln ihrer Familie. Doch Großmutter Hannah Cherlow (die Tochter von Karl Rothschild) hatte sich stets geweigert, über die Vergangenheit zu sprechen. Bis vor wenigen Monaten waren die beiden Cousins deshalb auch nie auf die Idee gekommen, der Altmühlstadt einen Besuch abzustatten. Dann allerdings bekamen sie die Erinnerungen von ihrem Großonkel Max Rothschild in die Hände. Der 2013 verstorbene Max Rothschild, ältester Sohn von Karl Rothschild, kommt in dieser 300 Seiten starken Biografie natürlich auch auf Gunzenhausen zu sprechen. Und weckte so die Neugierde seiner in Israel lebenden Verwandten.

Wie so oft hatte dann auch noch der Zufall seine Hände im Spiel. Denn Enkelin Tirza Routtenberg, Dozentin für Elektrotechnik an der Hochschule in Beersheva, wurde zu einem Kongress nach Heidelberg eingeladen. Und Netanel Yechieli hatte kurz vor dem Kongress in Polen zu tun. Plötzlich war der Plan geboren, nach Gunzenhausen zu reisen. In Emmi Hetzner, die sich seit Jahren um die Geschichte der Gunzenhäuser Juden verdient macht, fanden sie eine kompetente Ansprechpartnerin, die die beiden mit offenen Armen empfing.

Beim Stadtrundgang ist nicht nur die Besichtigung des ehemaligen Familienwohnsitzes ein bedeutender Augenblick, auch die Begegnung mit Fred Loos ist ein emotionaler Moment – einer unter vielen an diesen zwei Tagen. Als kleiner Bub lebte Fred Loos mit seiner Mutter im „Fränkischen Hof“, genau gegenüber der Arztpraxis. Natürlich war er Patient bei Dr. Rothschild, Fred Loos erinnert sich sogar noch an den einen oder anderen Hausbesuch.

Steht am ersten Nachmittag die Geschichte im Mittelpunkt, so dreht sich bei der abendlichen Zusammenkunft im Gasthaus Arnold vieles um die Begegnung zwischen Juden und Christen, um religiöse und philosophische Fragen. Das ist ein ausdrücklicher Wunsch von Netanel Yechieli. Der 42-Jährige begleitet Überlebende des Holocausts und deren Nachkommen in die Orte ihrer Herkunft, nach Gunzenhausen kam er direkt aus Treblinka. Explizit sucht Netanel Yechieli den gedanklichen Austausch mit hiesigen Geistlichen, weshalb Pfarrer Matthias Knoch und Pfarrer i. R. Hartmut Kühnel mit dabei sind. Vor allem mit Knoch, der selbst schon einige Gruppen durch Israel geführt hat, ergibt sich ein intensives Gespräch über geistliche Angelegenheiten, derweil Tirza Routtenberg ihrer Nachbarin Lesley Loy Bilder ihrer Kinder zeigt.

Bewegende Momente

Aber auch in der Gruppe, zu der auch Christa und Jochen Loos, Fred und Lotte Loos sowie Franz Müller gehören, wird bei koscherem Essen über das wahre Wesen der Liebe, über Hass und über die Überwindung von Gleichgültigkeit gesprochen. Doch es ist letztendlich Pfarrer i. R. Kühnel und sein Kollege Knoch, die für den wohl bewegendsten Moment des Abends sorgen.

Kühnel und seine Frau Gertraud haben vor Jahren den entscheidenden Anstoß für die Gedenktafel am ehemaligen Schächterhaus gegeben. Ihre Intention war allerdings nicht allein die Erinnerung an die vertriebenen und ermordeten ehemaligen Gunzenhäuser Juden, sie wollten einen Schritt weitergehen. In Dresden hatte das Ehepaar an der Kreuzkirche eine Tafel gesehen, wo von Scham und Trauer sowie von der Bitte um Vergebung die Rede war. Doch nach vielen Gesprächen und langen Diskussionsrunden findet sich am Ende auf der hiesigen Gedenktafel kein Wort davon. Weshalb Kühnel und Knoch nun die Gelegenheit ergreifen und die beiden Israelis um Vergebung bitten.

Netanel Yechieli ringt derweil um Fassung. Obwohl erst 1974 geboren, habe er sich immer als Holocaust-Überlebender gefühlt, beginnt der 42-Jährige seine ausführliche Antwort, und diese Zugehörigkeit werde noch durch seine Arbeit bestärkt. Regelmäßig suchen ihn Träume heim, in denen er weiß, dass seine ganze Familie in wenigen Momenten umgebracht wird. Die Beziehung zu seinen Eltern, die Beziehung zu seinen Kindern, alles ist geprägt vom Holocaust.

Er wisse nicht, warum er eigentlich nach Gunzenhausen kommen wollte, er sei dabei letztendlich seiner Intuition gefolgt. Viele in seiner Familie hätten diesen Wunsch nicht verstanden, er selbst dachte, dass es für ihn sicher furchtbar wird, die deutsche Sprache zu hören, zu lesen und mit deutschen Zügen zu fahren. Niemals hätte er mit diesem Empfang gerechnet, nicht damit, dass die Dinge so offen angesprochen werden.

Der Holocaust, erklärt Netanel Yechieli, ist das Megatrauma seines Volks und auch sein eigenes. Nun erweise sich der Besuch in Gunzenhausen für ihn persönlich als Beginn eines Heilungsprozesses. Nachdem weder Hannah Cherlow noch ihre Kinder je wieder etwas mit Gunzenhausen zu tun haben wollten, ist es die dritte Generation, die zum Schluss eine ganz unerwartete Brücke baut: „Wir fühlen uns zu Hause“, sagt Tirza Routtenberg am Ende dieses sehr emotionalen Abends.

Gestern besuchten Tirza Routtenberg und Netanel Yechieli noch den jüdischen Friedhof. Auf dem Programm stand auch noch der Besuch des Cronheimer Museums sowie des Gedenksteins in Muhr am See. Tags zuvor waren die Besucher zudem im Rathaus von Bürgermeister Karl-Heinz Fitz empfangen worden.