Familie Ernst Lehmann

Ernst und Julie Lehmann (1934)  © Hazel Green
Ernst und Julie Lehmann (1934) © Hazel Green

Die Familie Lehmann lebte um 1930 schon in der dritten Generation in Gunzenhausen. Der Großvater Gietel Lehmann war aus Burghaslach nach Gunzenhausen gekommen und machte sich als Hopfenhändler selbständig, wie später auch sein Sohn Abraham (* 10.12.1845 + 10.08.1909 in Gunzenhausen). Verheiratet ist Abraham in zweiter Ehe mit Julie, geb. Iglauer (* 03.07.1850 + 15.09. 1917) aus Burgkunstadt. Ihr Grabstein steht noch auf unserem Judenfriedhof. Sie betreibt zusammen mit ihrem Onkel David Lenkersheimer ein Stoff- und Kleidergeschäft.

Dieses Ehepaar hatte sechs Kinder und wohnte zunächst in der Rathausstraße 11, später in der Burgstallstraße 4, dann in der Burgstallstraße 12.

Einer ihrer Söhne, Ernst Lehmann, geb. 20.07.1878 in Gunzenhausen, ist ebenfalls als Kaufmann eingetragen, allerdings handelt er nicht mit Hopfen, sondern mit Stoff- und Schnittwaren, wie seine Mutter Julie. Im Jahr 1900 beginnt er als Schriftführer des neu gegründeten Kegelclubs Gunzenhausen. 1901 wird er als Vorstand des Rauchclubs erwähnt. Dies zeigt, wie integriert er in das gesellschaftliche Leben  Gunzenhausens war. 1906 wird er Eigentümer des Geschäftes von Mutter und Onkel.

Am 25.10.1909 heiratet er in Göppingen Julie Dörzbacher, geb. am 31.10.1884 in Göppingen. Das Ehepaar betreibt weiter das Stoff- und Textilwarengeschäft in der Gerberstraße 10.

Als 1914 der erste Weltkrieg beginnt, wird er zum Kriegsdienst einberufen. Als Frontkämpfer setzt er sein Leben für Deutschland ein. Glücklicherweise überlebt er den Krieg und kann zu seiner Familie zurückkehren.

Für diesen Einsatz wird ihm im Mai 1934 das Ehrenkreuz für Frontkämpfer verliehen. Da ist Hitler schon länger als ein Jahr an der Macht.

 

 

 

 

Das Ehepaar wohnt zunächst in der Hensoltstraße 4, dort werden vermutlich die ältesten vier der sechs Kinder geboren:

  • Susi * 29.08.1910 in Gunzenhausen
  • Gertrud * 18.09.1911 in Gunzenhausen
  • Lisbeth * 10.11.1912 in Gunzenhausen
  • Walter * 31.03.1914 in Gunzenhausen
  • Leopold Ludwig * 24.11.1917 in Gunzenhausen
  • Ilse * 12.04.1921 in Gunzenhausen
Lehmann-Kinder Ende der 20er Jahre in Gunzenhausen
Lehmann-Kinder Ende der 20er Jahre in Gunzenhausen Hinten: Leopold und Walter Vorne: Gertrud, Ilse, Susi und Lisbeth © Hazel Green

Aus dem Leben von Ilse Lehmann und ihrer Tochter Hazel:

Ilse Lehmann mit ihrer Familie im September 1950
Ilse Lehmann mit ihrer Familie im September 1950 Von links nach rechts: Ilse Lateman (geb. Lehmann), Baby Hazel, Israel "Ben" Latemann (Ilses Mann), Susi Sadler (geb. Lateman). Vorne: Julie Lehmann. © Hazel Green
70. Geburtstag Ilse Lehmann.
70. Geburtstag Ilse Lehmann. Von links nach rechts: Colin Green (Ilses Schwiegersohn), Samuel Green (Ilses Enkel, 8 Jahre alt), Carole Lateman (Ilses jüngere Tochter), Hannah Green (Ilses Enkelin, 6 Jahre alt), Ilse und Ben Lateman
Hazel Green und Eric Rosenthal im November 2004
Hazel Green und Eric Rosenthal im November 2004 in New York. Dort traf sie den Cousin ihrer Großmutter Julie Lehmann zum ersten Mal. Eric hat keine Verbindungen zu Gunzenhausen; seine Familie stammte aus Göttingen. © Hazel Green

Von Hazel Green haben wir viele Informationen über das Schicksal aller Nachkommen der Familie Lehmann erhalten. Unter anderem berichtet sie, warum Walter Lehmann später in Hamburg gelebt hat, denn im Stadtarchiv ist vermerkt, dass er sich 1964 mit seiner Frau Ingeborg Ruth Neu dort aufgehalten haben soll. Für mehr Information klicken Sie bitte hier.

Später zieht die Familie in die Burgstallstraße 7 als Mieter von Max Rosenau. Dort erleben sie auch das erste Judenpogrom am Palmsonntag, dem 25. März 1934.

In den Spruchkammerakten fanden wir dazu folgende Aussage:

"Was den Tod des Max Rosenau anlangt, so steht durch die eidliche und glaubwürdige Aussage der Zeugin Liesbeth Lehmann zur Überzeugung des Gerichts völlig einwandfrei fest, dass er nachdem die Familie Lehmann bei dem Ansturm der Menge in das Schlafzimmer geflüchtet war, allein im Wohnzimmer zurück geblieben war. Er hatte das Licht, das man ausgedreht hatte, wieder aufgedreht. Die Zeugin sah ihn durch die Schlafzimmertüre, die etwas zu einem Viertel offen stand, mit einem Messer in der Hand an dem Klavier  stehen. Sie forderte ihn noch auf, das Messer wegzutun, weil sie befürchtete, dass er sich damit zur Wehr setzen wolle. Wie sie einen Moment darauf wieder zu Rosenau herausschaute, sah sie, wie er das Messer noch in der Hand hatte und bereits blutete. Die Weste und das Hemd waren geöffnet und zurückgeschlagen. Kurz darauf hörte sie, wie Rosenau gerufen hat: „Ich bin schon tot, mir braucht ihr nichts mehr tun.“

Bald darauf ist er am Klavier, wo er noch stand, zusammengesunken. Durch den Sachverständigen Dr. Kraus ist erwiesen, dass Rosenau an der linken Brustseite 5 Stiche aufwies, die mit dem bei Gericht liegenden Messer geführt worden sein können. Der 3. Stich ist in die Spitze des Herzens gegangen und war tödlich, während die anderen Stiche nicht tödlich gewesen wären. ... Eine andere Todesursache konnte nicht festgestellt werden. Eine Tötung durch fremde Hand ist nicht zwingend. ... Das eindeutige Beweisergebnis mit einer jüdischen Zeugin als Kronzeugin lässt keinen anderen Schluss zu.

Was den Grund des Selbstmordes ... angeht, so konnte nichts Bestimmtes festgestellt werden. Es muss angenommen werden, dass die Furcht vor der Verhaftung und vor Misshandlungen die beiden (Max Rosenau und Jakob Rosenfelder) in den Tod getrieben hat, zumal sie ein schlechtes Gewissen insofern hatten, als sie nach den Feststellungen  in der Hauptverhandlung in den Jahren des Kampfes besonders feindlich gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung aufgetreten sind ...  Rosenau soll im Jahr 1923 nach einer Saalschlacht verletzte Kommunisten bei sich aufgenommen haben.

Einer anderen Schilderung aus dem Heft ‚Alt-Gunzenhausen’ entnehmen wir:
... Den Kaufmann Max Rosenau suchten sie ebenfalls in seiner Wohnung. Nachdem sie ihn dort nicht auffanden, drangen sie in die Wohnung seines Nachbarn Lehmann ein. Dessen Tochter bot ihnen an, anstelle ihres herzkranken Vaters festgenommen zu werden. Sie wurde jedoch verprügelt und ihr Vater und ihre Brüder festgenommen. Später wurde Max Rosenau in einem Zimmer der Lehmannschen Wohnung mit fünf Messerstichen in der Brust aufgefunden ...

Frau Hellmann als Baltimore schreib uns dazu:
“Max Rosenau was killed when he opened the door to his house on Palm Sunday and a Nazi slashed him with a sword.”

Wie aus der Einwohnerkartei hervorgeht, ziehen die Mitglieder der Familie Lehmann nach diesem tragischen Vorfall von Gunzenhausen weg und bemühen sich um die Ausreise aus Deutschland. Walter wandert am 09.08.1935 nach Argentinien aus. Sein Bruder Leopold Ludwig folgt ihm am 21.09.1936 nach Buenos Aires. Die beiden Eltern Ernst und Julie Lehmann verziehen am 30.05.1938 nach Frankfurt am Main und folgen Leopold nach Argentinien. Die jüngste Tochter Ilse verzieht am 06.09.1933 nach Göppingen, kommt am 29.01.1936 zurück nach Gunzenhausen und verzieht wie ihre Eltern am 30.05.1938 nach Frankfurt am Main. Sie wandert nicht mit den Eltern nach Argentinien aus, sondern kommt allein nach England, lebt zuerst in Manchester, dann in London und von 1958 an in Bournemouth. Ilse heiratet am 23.12.1945 Israel "Ben" Lateman. Sie stirbt am 31.01.2002.

Lisbeth wandert am 21.09.1936 nach Sao Paulo aus. Die älteste Schwester Susi, die 1932 in Nürnberg Otto Sadler geheiratet hatte, verzieht am 04.04.1932 nach Waidhaus und emigriert mit ihrem Mann und der 1935 geborenen Tochter Eva nach Kenya in Afrika. Gertrud verzieht am 23.10.1934 nach Cham in der Oberpfalz, geht dann mit ihrer Familie zunächst nach Israel. Zehn Jahre später ziehen sie nach New York. Sie stirbt 1998.

1945 verstirbt Ernst Lehmann in Buenos Aires.

Die Meldekarte der Stadt Gunzenhausen der Familie Lehmann
Die Meldekarte der Stadt Gunzenhausen gibt genau Auskunft über Zu- und Wegzüge der Mitglieder der Familie Lehmann. © Stadtarchiv Gunzenhausen

Aus einem Brief, den Gertrud um 1959 an Fred Dottheim in St. Louis geschrieben hat, erfuhren wir viel über das Schicksal der Familie Lehmann:

Lieber Fredi,
Du kannst Dir wahrscheinlich nicht vorstellen, wie sehr wir uns, meine liebe Mutter und ich, über Deine lieben Zeilen gefreut haben. Als ich vor ungefähr acht Jahren in den USA ankam, bemühte ich mich um Deinen Aufenthaltsort, jedoch vergebens, niemand wusste etwas von Dir, bis es nun Frau Katten (Herta Rosenfelder, Marktplatz 16) doch gelungen ist. ... Hoffentlich kannst Du diesen Brief, welchen ich in unserer Muttersprache schreibe, auch lesen. Es würde mir viel zu lange dauern englisch zu schreiben, da ich hier niemals in die Schule gegangen bin und so nur Sprechen durch den Umgang gelernt habe. Wir waren 10 Jahre in Israel und wie bereits gesagt, sind wir nicht allzu lange hier wie viele andere. Mein Mann arbeitet und bin im Catering business, so kannst Du Dir denken, dass ich in der Saison sehr beschäftigt bin. Wir haben einen 11jährigen Jungen. Meine Mutter ist seit 5 Monaten zu Besuch hier und fährt am 16. März wieder nach Buenos Aires wo Walter und Poldi leben und auch sie seit 17 Jahren. Mein Vater starb 1945 dort. Susi lebt im Kongo (muss heißen Kenya), East Africa, und Ilse ist in England verheiratet. Lisbeth starb leider im 31. Lebensjahr in Brasilien. Nun weißt Du alles in kurzen Zügen. ...

Eine Zeitzeugin meldet sich

Im Jahr 2006 kam Frau Elsa Röthenbacher zu Besuch in die Stephani-Schule, um den Schülern der Arbeitsgemeinschaft `Jüdische Familien` von ihren Erinnerungen an die Stoff- und Kurzwarenhandlung der jüdischen Familie Lehmann zu berichten.

„Meine Mutter hatte immer bei den Lehmanns in der Gerberstraße Stoffe eingekauft und war dort auch noch hingegangen, als man bei Juden eigentlich schon nicht mehr einkaufen durfte. Beim Verlassen eines jüdischen Geschäftes ist man nämlich fotografiert worden und diese Bilder haben sie dann öffentlich in einem Kasten ausgehängt um die ‚Judenfreunde’ anzuprangern.

Um dieser Blamage zu entgehen wurde ich als kleines Mädchen heimlich durch das Gässchen hinter dem Schlosser Krauß zur rückwärtigen Türe des Ladens geschickt um die gekaufte Ware abzuholen. Bei einer dieser Gelegenheiten führte die Tochter der Lehmanns mich in das Stofflager, zeigte mir drei Stoffballen und sagte, ich dürfe mir einen Schürzenstoff aussuchen. Schüchtern entschied ich mich für einen einfachen Stoff, bekam aber dann vom schöneren ein ganzes Stück abgeschnitten. Erst viel später habe ich begriffen, dass dies ein Abschiedsgeschenk gewesen ist, denn kurz danach hörten wir, dass die Lehmanns 'weggegangen' sind.“

Zwei Schürzen, die sie aus diesem Stoff genäht hatte, brachte Frau Röthenbacher mit und die Mädchen durften sie anprobieren. Ihr ganzes Leben lang hat sie sie aufbewahrt und immer wieder versucht  herauszufinden, wie es der Familie nach ihrem Wegzug ergangen ist. Seit Jahren verfolgte sie die Zeitungsberichte über die Gunzenhäuser Juden, in der Hoffnung auch einmal etwas über die Lehmanns zu erfahren.

Und so war ihre Freude groß, als die Schüler ihr  einen Ausdruck der ganzen Familiengeschichte schenkten und sie erfuhr, dass die sechs Lehmann–Kinder und ihre Eltern Ernst und Julie überlebt haben.

Nach dieser bewegenden Geschichte verstanden die Jugendlichen den Appell von Elsa Röthenbacher durchaus, sie sollten Menschen aus aller Welt kennen lernen um zu sehen: „Alle sind sie fleißig, arbeiten hart und lieben ihre Familie. Fahrt ins Ausland um zu sehen, wie andere Menschen leben und wie sie doch genau so sind wie wir alle!“

Als über diesen Besuch ein Bericht in der lokalen Tageszeitung 'Der Altmühl-Bote' stand, erhielt Frau Röthenbacher viele Anrufe von Bürgern aus der Stadt und der Region. Sie wollten ihr alle ihre Freude darüber mitteilen, dass sie jetzt endlich etwas über die Lehmanns erfahren haben und wissen, dass sie überlebt haben.