Hazel Green

Geschichte der Familie Lehmann aus der Burgstallstraße 7
 
aufgeschrieben von Hazel Green aus London (im Februar 2005)

Es tut mir leid, dass ich nicht in Deutsch schreiben kann. Ich bedauere sehr, dass meine liebe Mutter, Ilse Lateman (geb. Lehmann), mich nicht zweisprachig erzogen hat. Doch als ich geboren wurde, hatte sie beschlossen, nur noch dann deutsch zu sprechen, wenn es absolut notwendig sein sollte, z. B. um mit Verwandten zu sprechen, die nicht englisch konnten. Meine Mutter war sehr sprachbegabt. Im Gegensatz zu vielen Emigranten sprach sie Englisch nahezu akzentfrei. Wenn sie Engländer traf, bemerkten diese nicht, dass sie keine Einheimische war. Sie beherrschte auch spanisch und jiddisch. Als meine Schwester Carole im Alter von 14 Jahren deutsch in der Schule wählte, hatte sie nichts dagegen.

Zunächst einige Worte zur Familie Lehmann. Es war für meine Mutter zu schmerzlich über ihre Jugend zu sprechen, deshalb weiß ich nicht viel darüber.

Ernst Lehmann – mein Großvater
Ich habe ihn nicht mehr kennen gelernt, denn er starb bevor ich geboren wurde. Meine Mutter schilderte ihn als stolzen deutschen Bürger, der sein Land im Ersten Weltkrieg als Soldat verteidigt hatte. Trotz der schrecklichen Dinge, die in den dreißiger Jahren geschehen sind, wollte er nicht wahrhaben, dass sie Gunzenhausen besser verlassen sollten. Bis es dann 1939 fast zu spät dafür war.

Julie Lehmann – meine Großmutter
Sie war aus Göppingen und stammte aus der großen Dörzbacher Familie. (Ich besitze einen Stammbaum, der bis zu Löb Samuel Dörzbacher zurückgeht, dessen Söhne 1781 und 1783 geboren sind.) Nachdem sie Deutschland 1939 verlassen hatte, reiste sie 1950 von Buenos Aires nach England, um meine Mutter zu besuchen, nachdem ich gerade geboren war. Sie blieb mehrere Monate in England, bevor sie 1951 wieder nach Südamerika zurückkehrte. Ich erinnere mich nicht mehr an sie. Meine Mutter besuchte sie und ihre Brüder in Buenos Aires im Winter 1967/68. Großmutter Julie starb im Juni 1975, einen Monat vor meiner Hochzeit.

Susi Sadler, geb. Lehmann – meine Tante
Nachdem sie Deutschland verlassen hatten, lebte Susi mit ihrem Mann Otto Sadler viele Jahre in Kenia. Auch sie besuchte meine Mutter 1950 nach meiner Geburt. Nachdem sie 1960 nach England gezogen war, um hier zu leben, sahen wir sie und meine Cousinen Eva und Elisabeth gelegentlich. Susi starb 1983. Meine Cousinen werden Euch weitere Informationen zusenden.

Gertrud Schwarz, geb. Lehmann – meine Tante
Sie und ihr Mann Eugen gingen zunächst nach Palästina, damals unter britischem Mandat, dann nach New York. Sie lebte in Palästina während des Kampfes um die Unabhängigkeit und diente in der Haganah, der jüdischen Untergrundarmee. Ich traf Gertrud, als sie 1972 England besuchte. Zusammen mit meinem Mann Colin besuchte ich sie 1978 in New York. Ihren Sohn Eli, meinen Cousin, traf ich 1979 in Los Angeles zum ersten Mal. Gertrud ist nach Los Angeles gezogen, um näher bei ihrem Sohn zu leben. Zusammen mit unseren Kindern besuchten wir sie dort 1997. Kurz danach erkrankte sie schwer und starb im Jahr 1998.  Kurz vor ihrem Tod besuchte ich sie noch mit meinen Eltern. Gertrud hat ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet. Sie war eine ausgezeichnete Köchin und hat das Catering zu ihrem Beruf gemacht.     Eli habe ich über Euer Projekt berichtet, doch ich glaube kaum, dass er Zugang zu einem Computer hat.

Lisbeth Lehmann – meine Tante
Ich habe sie nie kennen gelernt, denn sie ist schon vor meiner Geburt an Leukämie gestorben. Sie war zwar verheiratet, doch ich glaube kaum, dass sie Kinder hatte. Ihr Mut, als die Nazis während des Pogroms 1934 in ihre Wohnung eingedrungen sind und sie versucht hat, ihren Vater zu verteidigen, war legendär.

Walter Lehmann – mein Onkel
Ich habe gehört, dass er 1950 Inge geheiratet hat, während seine Mutter Julie in England war, um meine Mutter zu besuchen. Walter und Inge reisten in den sechziger Jahren nach Europa und da lernte ich sie kennen. Einige Monate verbrachte er in Deutschland (Hamburg) um dort zu arbeiten, denn er wollte seine Rente sichern.  Walter war ein ruhiger und sehr kultivierter Mann. Sie hatten keine Kinder. Meine Eltern besuchten ihn und Poldi 1991 in Buenos Aires. Dort starb er im Jahr 1997.

Leopold Lehmann – mein Onkel Poldi
Seine erste Frau Vera starb sehr jung. Sie hatten zwei Kinder: Marcello, der jetzt in Mexiko City lebt und Euch schreiben wird, und Isabella, die ich nie kennen gelernt habe. Ich lernte Poldi kennen, als er 1978 meine Mutter in England besuchte. Er war ein reizender Mann, sehr liebenswürdig und mit Sinn für Humor. Er starb 1997, nur wenige Wochen nach Walter. Poldi stand altersmäßig meiner Mutter am nächsten und sie mochte ihn sehr gern. Er hatte ihr Schwimmen beigebracht, indem er sie einfach in den See warf. Er und Walter waren beide regionale Schwimm- und Tauchchampions. Meine Mutter erinnerte sich, dass sie beide mit Lorbeerkränzen ausgezeichnet worden waren. Auch sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin und Taucherin, die im Urlaub immer als erste im Wasser war, egal ob im Meer oder im Pool.

Ilse Lateman, geb. Lehmann - meine liebe Mutter
Mutter starb vor drei Jahren am 31. Januar 2002 und wir vermissen sie sehr.

Es war für sie sehr schmerzlich über ihre Jugend zu sprechen, doch ihre frühen Erlebnisse prägten sie für ihr ganzes Leben. Ich glaube, sie hatte eine glückliche Kindheit bis die Nazis kamen. Sie erzählte von Skiveranstaltungen im Winter, vom Schwimmen in den nahegelegenen Seen im Sommer und davon, dass ihre älteren Schwestern mit jungen Studenten ausgingen, die Narben vom Duellieren hatten. Doch das Leben wurde schwierig für die Juden in Gunzenhausen, als die Nazis an die Macht gekommen waren. Mutter sagte immer, dass der Antisemitismus in erster Linie  von Bayern ausgegangen sei, die unsäglichen Nürnberger Gesetze wären der Beweis dafür.

Schließlich war das Leben dort so schwierig geworden, dass meine Mutter nicht mehr die Schule besuchen konnte und deshalb zu Onkel und Tante nach Göppingen geschickt wurde. Ihre Cousine Betty Greenberg, geb. Dörzbacher, die heute im Staat New York lebt, erinnert sich, dass Mama bei ihnen lebte. Es war nicht einfach für sie, nach England zu emigrieren. Nur weil einige Schwager ihrer Schwester Susi bereit waren, die Verantwortung zu übernehmen, bekam sie die Erlaubnis einzureisen.  Mit 18 war sie zu alt für einen Kindertransport, doch ihr Schwager, Otto Sadler (Susis Ehemann), hatte einen Bruder, Alfred Sadler, der schon vor 1930 nach England ausgewandert war. Um nach Großbritannien einreisen zu können, brauchte der Flüchtling jemanden, der ihn dort unterstützte – d. h. der die Verantwortung für ihn übernahm. Alfred und seine Frau Else waren bereit, für meine Mutter zu sorgen, obwohl sie zunächst selbst noch bei einer anderen Familie in Manchester wohnten. So kam Ilse zu den Sadlers nach London. Alfred war während des Krieges als feindlicher Ausländer auf der Isle of Man interniert.

Ilse lernte meinen Vater kennen und am 23. Dezember 1945 haben die beiden geheiratet. Mein Vater, heute 88 Jahre alt, wurde 1916 in London als Sohn russischer Juden geboren, die vor den russischen Pogromen nach Großbritannien geflohen waren. Sie stammten aus Vitebsk, heute in Weißrussland (auch die Heimat des Malers Chagall). Meine Eltern führten eine lange und glückliche Ehe. Ich wurde im Mai 1950 geboren und meine Schwester Carole im Dezember 1954. Meine Mutter hat ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet. Sie und mein Vater hatten eine Reihe von Geschäften, vom Süßigkeiten-Laden bis zum Fisch-and-Chip-Imbiss. Schließlich zogen sie nach Bournemouth, einem Ferienort an der Südküste Englands, wo sie viele Jahre ein kleines Hotel führten.

Meine Mutter kochte alles selbst – manchmal für mehr als 60 Personen.

So wie sie eine sehr gute Köchin war, hatte sie auch noch andere Talente und war gut in allem, was sie tat. Sie konnte gut organisieren, sowie effizient und hart arbeiten. Eigentlich hatte sie Schneiderin gelernt und viele unserer Kleider selbst genäht bzw. toll geändert. Sie nähte Vorhänge und tapezierte selbst. Abgesehen davon, dass sie großartig schwimmen konnte, wie schon vorher erwähnt, waren sie und mein Vater begeisterte Tänzer, die viele Amateur-Preise gewannen. Besonders ihr Tango war großartig. Aber die Erlebnisse in der Jugend forderten ihren Tribut. Könnt Ihr Euch vorstellen, was es bedeutet, mit 18 Jahren allein das Land zu verlassen? Zum ersten Mal allein wegzufahren, mit sehr wenig Geld und nur einem Koffer – das war alles, was erlaubt war? Auf dem Bahnhof seinen Eltern Auf Wiedersehen zu sagen, ohne zu wissen, ob man sie jemals wiedersehen wird? (Tatsächlich hat Ilse ihren Vater nie mehr wieder gesehen und ihr ganzes Leben lang hatte sie eine starke Abneigung gegen Bahnhöfe. Sie kam fast nie an den Bahnhof, wenn ich mit dem Zug nach Bournemouth zurückkehrte und wenn doch, dann kam sie nie auf den Bahnsteig, sondern blieb im Warteraum.) Oder was es bedeutet, zu heiraten, ohne dass Eltern, Schwestern oder Brüder dabei sein können?

Meine Mutter litt ihr ganzes Leben unter Albträumen und wollte nur sehr wenig über ihre Kindheit in den dreißiger Jahren in Bayern erzählen. Sie liebte klassische Musik, besonders Opern und erzählte, dass sie als Jüdin kein Konzert mehr hatte besuchen dürfen. Doch manchmal habe es sich ergeben, dass sie sich einschleichen konnte. Sie erzählte, dass die Familie einen Hund gehabt hatte. Eines Tages sei dieser mehre Stunden lang verschwunden gewesen und als er schließlich wieder gekommen sei, hatte man ihm ein Hakenkreuz in die Haut eingebrannt. Auch erwähnte sie, dass in ihrer Wohnung jemand umgebracht worden sei und an diesem Tag ihre Schwester Lisbeth versucht habe, den Vater zu verteidigen. (Ich habe inzwischen gelernt, dass dies das Pogrom von 1934 war – bitte beachtet, dass meine Mutter NIE das Wort Selbstmord verwendet hat.)

Ihr ganzes Leben lang hat meine Mutter unter Minderwertigkeitskomplexen gelitten und ist vor jeder Autorität nervös geworden. Sie fühlte sich unwohl, sobald sie in die Nähe einer Person mit Uniform kam, besonders wenn derjenige noch eine Kappe trug. Ich meine damit nicht nur Soldaten oder Polizisten, was noch verständlich gewesen wäre, nein, es konnten auch Verkehrslotsen, Busschaffner oder Briefträger sein, die in Großbritannien bis vor 20 Jahren noch Uniform mit Kappe trugen. Meine Mutter war verbittert über das, was ihrer Familie geschehen ist und weigerte sich Deutschland zu besuchen. In den späten Sechzigern kehrten Susi und Gertrud noch einmal nach Gunzenhausen zurück, wo sie noch einige Leute kannten. Sie hatten vorgehabt, zwei Tage zu bleiben, doch die Erlebnisse waren so schrecklich, dass sie nach einem Tag abreisten. Meine Mutter sagte, all die Leute zu sehen, ihre früheren Nachbarn, deren Leben nicht auseinandergerissen worden war, die den Krieg überstanden hatten – das habe ihr eigenes Trauma noch schlimmer gemacht. Sie entrüstete sich sehr, wann immer sie von antisemitischen Vorfällen las oder hörte. Es gab ihr das Gefühl, als ob all das, was die Juden im Dritten Reich erlitten hatten, vergeblich gewesen sei. Sie liebte Israel, das sie und mein Vater häufig besuchten und konnte die Ansicht mancher Leute nicht verstehen, die Israels Aktionen der Selbstverteidigung gegen einen aggressiven Feind mit denen der Nazis verglichen. Ihr Argument:

„Die Nazis haben uns angegriffen, unschuldige und wehrlose Menschen – die Israelis werden angegriffen von Selbstmordattentätern, die Raketen in die Städte schicken, und die Welt bestreitet ihnen das Recht auf Selbstverteidigung.“ Sie beschuldigte Israels Kritiker der heuchlerischen Trauer um die Opfer des Holocaust und der Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit, gegenüber dem Schicksal der lebenden jüdischen Nation, vereinigt in Israel. Sie ging vor drei Jahren von uns und so blieb es ihr erspart, Zeugin des gegenwärtigen schockierenden Anwachsens des Antisemitismus in Europa zu werden. Kürzlich wurde darüber berichtet, dass 2004 hier in England die höchste Zahl antisemitischer Übergriffe stattgefunden hat: die Beschädigung von 17 Synagogen und 5 jüdischen Friedhöfen sowie 83 tätliche Angriffe. In Londons Straßen haben erst kürzlich wieder acht Übergriffe auf Juden stattgefunden.

Wir, die Nachkommen der Überlebenden, gratulieren Euch zu Euerem exzellenten Projekt. Es kann nur durch die Aufklärung der zukünftigen Generationen über den Holocaust der europäischen Juden gelingen, dass die Lektion verstanden wird: Nie wieder!
Hazel Green, Tochter von Ilse Lehmann aus Gunzenhausen und Bournemouth, UK