Die Geschichte der Familie Blumenstein

Der Kaufmann und Webermeister Joseph Blumenstein wurde am 11.04.1828 als zweiter Sohn von Enslein Blumenstein und Getti, geb. Bernheimer, in der Waagstraße 4 geboren.

Er heiratete Doris Dormitzer, geb. am 12.10.1837 in Baiersdorf. Das Ehepaar zog 1863 in sein neu erworbenes Haus am Marktplatz 5, wo es eine Weberei, aber auch Schnittwaren- und Hopfenhandel betreibt. Hier werden ihre zehn Kinder geboren.

Clara *14.10.1861 in Gunzenhausen, verheiratet mit Max Reiss aus München
Gerda *19.02.1865 in Gunzenhausen, am 19.11.1935 nach Nürnberg abgemeldet und 1936 dort gestorben.
Rosa *15.08.1866 in Gunzenhausen, verheiratet mit Moritz Kugler. Hatten ein Textilgeschäft in Schongau. Das Ehepaar kam in Theresienstadt ums Leben
Pauline *14.10.1867 in Gunzenhausen, gestorben 1940
Eugen *08.03.1869 in Gunzenhausen, 1885 nach Amerika ausgewandert
Louis *03.09.1870 in Gunzenhausen, 1913 mit seinem Sohn nach Amerika ausgewandert
Berta *20.04.1872 in Gunzenhausen, am 19.11.1935 nach Nürnberg abgemeldet, wo sie im Israelitischen Altersheim in der Johannisstraße 17 lebt. Von dort wird sie am 10.09.1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 14.01.1943 im Konzentrationslager umkommt.
Max *23.08.1874 in Gunzenhausen, gestorben am 17.12.1878
Lina *15.01.1877 in Gunzenhausen, lebt um 1939 in der Heil- und Pflegeanstalt Ansbach, gestorben 1940
Adolf *23.07.1879 in Gunzenhausen, verheiratet mit Bella Heilbronner aus Ichenhausen. Das Ehepaar lebt nur kurz in Gunzenhausen. In Aachen bzw. Nürnberg werden die beiden Kinder Lisel *04.07.1913 und Emil *28.09.1918 geboren.

In dem stattlichen Haus der Familie finden bis zur Fertigstellung der neuen Synagoge von 1880 bis 1883 die jüdischen Gottesdienste statt.

Im Jahr 1891 stirbt Joseph Blumenstein und seine Frau Doris führt das Geschäft bis 1915 als Galanteriewarenhandel weiter. Dann übernehmen vier ihrer Töchter das Geschäft. Es müssen Gerda, Pauline, Berta und Lina gewesen sein, da ihre beiden Schwestern Clara und Rosa verheiratet waren und Gunzenhausen verlassen hatten.

Quelle: Personendokumentation der jüdischen Einwohner von Gunzenhausen, zusammengestellt von Werner Mühlhäußer, Stadtarchivar

In der Stadt spricht man von den ‚Damen Blumenstein', die bis 1933 ein renommiertes Manufakturwaren- und Konfektionsgeschäft in dem Haus am Marktplatz 5 betreiben.

Ab 1933 wird der Laden an die Schwestern Reichel vermietet, obwohl die Blumensteins weiterhin in der Stadt wohnen. Es ist anzunehmen, dass sie ihr Geschäft nicht nur aus Altersgründen aufgegeben haben, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt alle über 60 Jahre alt sind.
Erst im Jahr 1935 übersiedeln sie nach Nürnberg, wo ihr Bruder Adolf ein Spielzeuggeschäft betreibt. Berta lebt dort im israelitischen Altersheim.

Pass von Berta Blumenstein
Pass von Berta Blumenstein

Im Februar 2020 teilte uns Joachim Hahn freundlicherweise mit, dass Rosa Kugler mit Ihrem Mann Moritz und ihren beiden Söhnen Norbert und Josef in Schongau gelebt hat. 1942 wurde das Ehepaar von München aus nach Theresienstadt deportiert, wo sie ermordet wurden. Für beide wurde in Schongau ein Stolperstein verlegt.

Weitere interessante Informationen zur Familie Kugler sind zu finden in http://www.alemannia-judaica.de/schongau_juedgeschichte.htm

© Michel Kugler

Im Jahr 2021 hat sich zum ersten Mal ein Nachkomme der Familie bei uns gemeldet. Michel Kugler, ein Urenkel von Rosa Blumenstein, verheiratete Kugler, sandte uns Bilder, Dokumente und Informationen.

"Moritz und Rosa sind meine Urgroßeltern

Norbert ist mein Großonkel, Josef mein Großvater

Norbert und Josef sind Brüder

Norbert heiratete Mira Broner

Josef heiratete Herta Gerst

Sie hatten zwei Kinder: Simone (1937) und Roger (1939), beide leben

Roger ist mein Vater, er lebt in Frankreich mit meiner Mutter.

Ich habe einen Bruder Jean-Pierre (1969)

...

Michel Kugler"

Joseph und Herta Kugler mit ihren Kindern Roger und Simone © Michel Kugler

Todesurkunden

In ihrer Knappheit sagen diese 'Todesfallanzeigen' viel aus.

Erhalten haben wir diese Urkunden vom Urenkel Michel Kugler.

© Michel Kugler  

Die Stadt Schongau hat im August 2021 Stolpersteine vor dem ehemaligen Haus der Familie Kugler verlegen lassen

Die folgenden Informationen erhielten wir von Frau Johanna Müller, geb. Reichel.

Bald nach der Übernahme heißt die Adresse des Geschäftes nicht mehr Marktplatz 5, sondern ist umbenannt in Adolf-Hitler-Platz 5. Noch immer sind die drei Schwestern Gertrud, Luise und Johanna Reichel Mieterinnen und bezahlen zunächst 150 RM monatlich, später 110 DM monatlich.

1938 ist Berta Blumenstein als alleinige Besitzerin des Hauses eingetragen, da ihre Schwester Lina in der Heil- und Pflegeanstalt Ansbach untergebracht werden musste und ihre anderen Schwestern erkrankt bzw. verstorben sind.

In der Reichskristallnacht am 9. November 1938 werden alle noch in Gunzenhausen lebenden Juden aus ihren Häusern gejagt und im Treppenhaus dieses Geschäftshauses eingeschlossen. Von dort bringt man am nächsten Morgen die jüdischen Männer zum Bahnhof Gunzenhausen, wo sie in Güterwaggons verladen und in Konzentrationslager abtransportiert werden. Frauen und Kinder dürfen nachhause, wo Bürgermeister Appler sie aufsucht und ihnen ihre Anwesen und Grundstücke 'abkauft'. 

Jüdische Männer am Bahnhof Gunzenhausen vor dem Abtransport nach Dachau, im November 1938 © Stadtarchiv Gunzenhausen

1942 besuchen die Schwestern Reichel Berta Blumenstein in Nürnberg, um Verkaufsverhandlungen zu führen. Johanna Müller, geb. Reichel, erinnert sich: "Sie trug einen gelben Judenstern und musste den Namen Berta Sara Blumenstein tragen."

Gertrud, Luise und Johanna Reichel erwerben das Haus für 19.500 RM, doch es ist ziemlich sicher, dass Berta Blumenstein das Geld nicht mehr erhalten hat, denn sie wird kurz danach in das KZ Theresienstadt deportiert, wo sie schon am 14.01.1943 umkommt.

Alle vier Reichel-Schwestern, Töchter des Bezirksbaumeisters Carl Reichel in Gunzenhausen, hatten einen Beruf erlernt: Luise Reichel war Innenarchitektin in Berlin, Gertraud Reichel Directrice in Coburg, Mathilde Reichel hatte eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert und Johanna Reichel arbeitete als kaufmännische Angestellte bei der Firma Loos und später am Finanzamt. Doch in dieser Zeit waren sie alle bis auf Mathilde ohne Arbeitsstelle, so dass sie sich entschlossen, ein Geschäft zu eröffnen.

Ihre Mutter, Ernestine Reichel, geb. Prosiegel aus Markt Berolzheim war in den Zwanziger Jahren eine der ersten Stadträtinnen von Gunzenhausen.

Johanna Müller berichtet von mehrmaligen Boykottversuchen eines Gunzenhäuser Geschäftsmannes in den ersten Jahren.

Schilder mit der Aufschrift "Kauft nicht bei Judenknechten!" seien mehrmals vor ihrem Schaufenster aufgestellt worden, weil es eben ein Judenhaus gewesen sei. Doch der damalige Bürgermeister Appler, obwohl ein Nationalsozialist, habe sie immer unterstützt.

Bis 1969 führten die 'Damen Reichel' das Geschäft selbst, dann wurde es vermietet. Die oberen Etagen waren schon immer vermietet, da die Familie in der Sichlingerstraße wohnt.

Vor 10 Jahren forderte die Stadt den Abriss einer alten Hopfenscheune, die im Hof hinter dem Haus stand. Nach heftigen Widerständen gab Frau Johanna Müller 1994 auf und verkaufte das gesamte Anwesen an den Bauunternehmer Bromm aus Theilenhofen.

Den Schülern sagte sie: "Es lag kein Segen auf dem Judenhaus."

Franz Diller interviewt Johanna Müller

Von den Damen Blumenstein hat keine das Dritte Reich überlebt, doch ihre Neffen und Nichten stellten 1946 Nachforderungen an die Familie Reichel, da sie kein Geld erhalten hatten.1957 wurde das Urteil gefällt und sie mussten noch einmal 21.000 DM plus Lastenausgleich für das Haus bezahlen.

Im September 2016 überließ uns Wolfgang Kamm Unterlagen seiner Familie, die den Kauf zweier Grundstücke aus dem Besitz der Familie Blumenstein dokumentieren. 

Beschluss über die 'Entjudung' der Grundstücke, erhalten von Wolfgang Kamm

Im Jahr 1948 erhielt Frau Tränkler die Mitteilung der JRSO (Jewish Restitution Successor Organization), dass die erworbenen Grundstücke aus ehemals jüdischem Eigentum entweder zurückgegeben werden müssen oder eine Nachzahlung erforderlich sei. Frau Tränkler entschied sich für die geforderte Nachzahlung von 150 RM und war damit als rechtmäßige Besitzerin anerkannt. Doch sie wies in einem Schreiben ausdrücklich darauf hin, dass die Stadt Gunzenhausen als Verkäufer aufgetreten war und sie nicht gewusst hatte, dass ursprünglich Juden die Besitzer gewesen seien. 

Einspruch von Margarete Tränkler, erhalten von Wolfgang Kamm